Einleitung

Einleitung von Clare Westmacott

Klara

Klara Mehlich, gemalt von Robert Seuffert sen.

Das Tagebuch

Meine Großmutter Klara Mehlich hat dieses Tagebuch von Dezember 1940 bis November 1944 geschrieben, während sie in Köln und der Umgebung lebte. Sie schrieb es für meine Mutter, die den Engländer Jack, meinen Vater, geheiratet hatte und in England wohnte. Die Aufzeichnungen beschreiben das Leben meiner Großmutter während der Kriegsjahre, und sie hoffte, dass, wenn es ihr nicht möglich sein sollte, meiner Mutter das Tagebuch persönlich zu geben, es auf anderem Weg eines Tages in deren Hände gelangen würde. Beide haben den Krieg überlebt, und irgendwann bekam ich das Tagebuch.  

Meine Großmutter hatte einen bunten familiären Hintergrund. Sie wurde 1889 geboren, als Kind einer Bauerntochter, die – so die Familienüberlieferung – mit  einem Kunstreiter durchgebrannt war, während der Zirkus in ihrer Stadt gastierte. Als Kind reiste meine Großmutter ausgiebig in Städte überall in Europa, darunter Sankt Petersburg und London. Ihre Familie war groß und sie verlor mehrere Brüder im Ersten Weltkrieg.

Als meine Großmutter heiratete, war sie viel jünger als ihr Mann. Er war Maler und Professor in Köln, und sie hatte ihm Modell gestanden. Er war 1874 in Köln geboren worden, als Sohn eines Bildhauers, der aus dem Saarland zugereist war, um bei der Fertigstellung des Kölner Doms mitzuwirken. Mein Großvater bekam seine ersten Unterrichtsstunden von seinem Vater, und von 1897 bis 1908 war er Schüler von Eduard von Gebhardt an der Düsseldorfer Kunstakademie sowie Meisterschüler von Johann Peter Theodor Janssen. Als Student reiste er nach Berlin, München, zur Weltausstellung nach Paris, nach Belgien, Holland und Italien, um sich weiterzubilden. Der einjährige Aufenthalt in Italien war durch ein Stipendium möglich, das er gewonnen hatte.

Er spezialisierte sich auf historische und religiöse Motive und Baudenkmäler, und seine Arbeiten wurden in vielen deutschen Städten, einschließlich Berlin, ausgestellt. Eines seiner frühen Wandgemälde, entstanden 1902, hatte den Titel „Prometheus bringt der Menschheit das himmlische Feuer, die Wahrheit der Kunst und das Licht der Erkenntnis” und schmückte die Decke des Kölner Opernhauses. Er war verantwortlich für große Wandbilder in vielen Kirchen und weltlichen Gebäuden, zum Beispiel ein Wandbild in der Schatzkammer der Nassauischen Landesbank in Wiesbaden, das er 1915 malte. Er genoss hohes Ansehen als Porträtmaler und gehörte einem Künstlerzirkel mit dem Namen „Der Stil” an.

Er wurde 1912 oder 1914 Lehrer und 1923 Professor an der Kölner Kunstgewerbeschule. 1936 ging er in Pension.  Viele seiner Bilder wurden im Krieg zerstört, darunter das Deckengemälde in der Oper, aber einige Werke sind noch in Kölner Museen aufbewahrt, während einige religiöse Bilder in die USA verkauft wurden. Andere Werke gehören Privatleuten.

Meine Großeltern hatten drei Kinder, meine Mutter Liese Lotte (geboren 1912), Walter (geboren 1916) und Robert („Röbi”, geboren 1920). Sie waren wohlhabend, zählten zur Bohème und lebten in einem eleganten Haus in der Wiethasestraße in Köln-Braunsfeld. Sie bewegten sich in höheren Kreisen und gehörten vor dem Krieg zu den besten Klubs. Zu ihren Bekannten zählte auch Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, 1933 von den Nazis abgesetzt und später erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.  

Die Kinder hatten eine Gouvernante, bis sie zur Schule gingen – meine Mutter in eine Klosterschule, Walter in eine Jesuitenschule und Röbi in eine städtische Schule.

Meine Mutter kam 1936 als Au-Pair nach England. Sie lernte meinen Vater kennen und heiratete ihn standesamtlich 1937 mit einer Sondererlaubnis, bevor sie nach Deutschland zurückkehren musste, kurz bevor ihr Visum ablief. Als verheiratete Frau war es leichter für sie, 1938 dauerhaft nach England zurückzukehren. Sie und mein Vater heirateten dann kirchlich, wobei meine Großmutter die Braut zum Altar führte. Meine Eltern besuchten 1938 die Familie in Köln. Mit der Heirat bekam meine Mutter die britische Staatsangehörigkeit und wurde nach Kriegsbeginn nicht interniert. Ich wurde 1940 geboren (im Tagebuch nennt meine Großmutter mich Klärchen), mein Bruder Nigel 1943.

Die politischen Ansichten meiner Großmutter während des Krieges werden deutlich, und dieses Tagebuch muss sie heimlich geführt haben. Nach ihrer Handschrift zu urteilen hat sie manchmal in großer Eile geschrieben. Tatsächlich wurde sie einmal von der Gestapo einbestellt wegen eines Briefs, den sie erhalten hatte, und sie hält im Tagebuch auch illegale Aktivitäten fest, die sie unternahm.

Die Aufzeichnungen sind sehr persönlich und spiegeln ihr Leben in dieser Zeit wider – als Hausfrau, die verzweifelt Lebensmittel für ihre Familie zu beschaffen versucht, als Bürgerin, die die Entbehrungen des Krieges erträgt ohne ihren Grundsätzen untreu zu werden, aber vor allem als Mutter, deren sehnlichster und über allem stehender Wunsch es war, ihre Kinder mögen gesund und wohlbehalten zurückkehren. All dies steht im Zeichen des Kriegshorrors.

Zunächst scheint es, als falle es ihr schwer, ihr Tagebuch ans Laufen zu bringen, aber schon bald wird deutlich, dass auch ihre scheinbaren Abschweifungen sowohl relevant als auch interessant sind.

Das Tagebuch legt Widersprüche in ihrer Beziehung sowohl mit ihren Kindern als auch mit ihrem Ehemann offen, die, zumindest was ihre Kinder betrifft, nur durch den Kriegsstress zu erklären sind. Ein Beispiel: Obwohl sie das Tagebuch für meine Mutter führte, lebte meine Großmutter nicht selten in der Vorstellung, dass ihre Tochter nicht einmal versuchte, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Ihre Beziehung zu ihrem Sohn Walter wechselt zwischen großer Nähe und Liebe bis zur Gleichgültigkeit. Nur Röbi entgeht jeglicher Kritik.

Was ihre Beziehung zu ihrem Mann angeht, war diese offensichtlich lange vor dem Krieg zerbrochen, aber die Liebe zu ihren Kindern und die Sorge um sie, die beide miteinander teilten, war der Faden, der von ihrer früheren Bindung übrig geblieben war.

Ihre Beziehung zu Gott war sehr persönlich und nicht ohne eine Prise Humor. Ihr Glaube wankte bei mancher Gelegenheit, aber im Großen und Ganzen war sie überzeugt, dass ihre Kinder zu ihr zurückkehren würden, wenn Gott es nur wollte.

Es gibt Unstimmigkeiten was die Fakten im Tagebuch angeht, aber man kann annehmen, dass sie aufschrieb, was sie für wahr hielt. Beispielsweise war ihr die Propaganda der Nazis offensichtlich verdächtig, und doch glaubte sie an einen Bericht, die Kathedrale von York sei von der Luftwaffe zerstört worden.

Von unserer Zeit aus betrachtet ist es faszinierend, ihre Berichte über die Ereignisse zu lesen, deren Einzelheiten wir heute kennen. Zum Beispiel ihre Schilderung dessen, was in der Nacht vom 30. Mai 1942 passierte, der erste 1000-Bomber-Angriff auf Köln und damit des Zweiten Weltkriegs.

Oder auch ihre Beobachtung im September 1941, dass die Juden begannen, den gelben Davidstern an ihrer Kleidung zu tragen. „Heute sehe ich auf der Straße die Juden mit ihren Abzeichen herumlaufen. Sionsstern, auf gelbem Grund steht ‚Jude‘, kleine Kinder, alles muß dieses Zeichen tragen. Ich weiß nicht, zu was das gut ist. Es macht auch in der anständig gesinnten Bevölkerung nur böses Blut und heute geht man mit einem Kopfschütteln an diesen kleinlichen Maßnahmen vorbei.“

Obwohl ich meine Großmutter gut zu kennen glaubte und sie von Herzen liebte, ist es mir als Kind nicht aufgefallen, dass sie niemals über den Krieg sprach (sie zeigte mir lieber die Schönheiten der Landschaft und nahm mich mit in Museen und Kunstgalerien). Ich bin zum ersten Mal 1948 nach Deutschland gefahren, im Alter von sieben Jahren, und ich werde den Anblick Kölns bei diesem ersten Besuch nie vergessen. Überall Zerstörung und kleine Blumengebinde auf den Trümmerhaufen als Zeichen des Gedenkens.

Meine Großmutter lag in Bensberg im Krankenhaus und wurde wegen ihrer Herzprobleme mit Blutegeln behandelt. Ich werde nie das Glas auf dem Fensterbrett über ihrem Bett vergessen, in dem sie lagen. Später dann saßen meine Mutter und meine Großmutter bei jeder Gelegenheit zusammen und redeten und redeten, Stunde um Stunde ohne Unterbrechung.

Jetzt habe ich mich zu guter Letzt durch ihr Tagebuch gearbeitet und bewundere ihren Stoizismus, ihre Integrität und ihren Mut während dieser grässlichen Phase der Geschichte und habe das Gefühl, dass ich sie viel besser kenne als vorher. 

Goethe schrieb: „Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist.” Ich glaube, dass diese Aussage niemals mehr Wahrheit enthielt als mit Blick auf dieses Tagebuch.

Nach dem Krieg

Robert Seuffert jun., “Röbi”
Clare, gemalt von Röbi

Nigel gemalt von Röbi

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist Foto-Clare.png

Clare Westmacott berichtet in Videos, die sie für ein Online-Seminar des Kölnischen Stadtmuseums zum Weltfrauentag 2021 aufgenommen hat, über ihren ersten Besuch in Deutschland 1948

Ankunft in Köln 1948

“Vom Krieg haben sie nie gesprochen”

Im Chaos nach Kriegsende waren die unterschiedlichsten Menschen – Flüchtlinge aus dem Osten, Obdachlose aus den Städten und frühere Kriegsgefangene – dankbar für jede Unterkunft und Arbeit auf dem Land. Meine Großmutter hatte das Glück, drei Zimmer auf dem Bauernhof zu bekommen, wo sie als Gegenleistung für Nahrungsmittel gearbeitet hatte. Sie hatte eine kleine Küche, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Außerdem gab es ein Plumpsklo neben der Scheune, das einmal im Jahr geleert wurde und Dünger für die Felder lieferte. Sie besaß noch die Dinge, die sie nach Schloss Ehreshoven hatte retten können und hatte im Vergleich zu vielen Anderen großes Glück.

Der Hof, auf dem sie lebte, heißt Knipscherhof und bestand aus zwei Bauernhäusern, die zwei Brüdern gehörten. Das ältere Haus war im 18. Jahrhundert erbaut worden, mit niedrigen Balkendecken und kleinen Räumen, das neuere 50 bis 60 Jahre später, mit großen, luftigen Zimmern. Außerdem gibt es ein sehr kleines Haus, das ursprünglich das Backhaus gewesen war, in dem das Brot für die Bauern und ihre Arbeitskräfte gebacken wurde. Nach einigen Jahren zog meine Großmutter in dieses Haus, aber unmittelbar nach dem Krieg wurde es von verschiedenen Flüchtlingen bewohnt, die alle ihre eigene Geschichte zu erzählen hatten.

Eine ganze Weile lebten dort eine Witwe im mittleren Alter, ihr Vater und ihr Schwiegervater. Die beiden Männer, ihre Frauen und die Witwe waren nach Westen geflohen, als die russische Armee in ihre Heimat vorrückte. Alle drei Frauen waren mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt worden; die beiden Älteren starben unterwegs. Einer der Männer war durch Leid und Trauer psychisch krank geworden und weinte unentwegt. Der andere war nicht in der Lage, zu arbeiten. Die Witwe arbeitete Tag und Nacht, um für die beiden und sich selbst zu sorgen.

Röbi und Walter kehrten nicht gleichzeitig aus dem Krieg zurück. Walter kam zuerst und sein Zimmer war ein Schuppen über dem Kuhstall mit Blick auf den Misthaufen. Der Raum hatte weder Strom noch Heizung, und die Gefache der Wände waren mit Lehm und Ästen ausgefüllt.

Röbi war in Kanada in Kriegsgefangenschaft. Als die Gefangenen von dort nach Hause überführt wurden, kamen viele von ihnen zunächst nach England. Röbi gehörte zu denen, die in Wetherby untergebracht waren, drei Meilen von meinem Elternhaus.

Zunächst war Fraternisierung verboten und meine Eltern deponierten Zigaretten unter unserer Hecken, damit die Gefangenen sie auf dem Weg zu ihren Einsätzen auf den Äckern auflesen konnten. Später, als die Vorschriften nicht mehr so streng gehandhabt wurden, durfte er uns besuchen und malte wunderschöne Porträts von mir und meinem Bruder Nigel, die ich heute habe, und andere Kriegsgefangene bastelten uns hübsche Holzspielzeuge.

Nach dem Krieg wurde auf dem Bauernhof in Deutschland ein großes Paket abgeliefert. Es kam aus Kanada und enthielt einige Bilder, die Röbi dort in Gefangenschaft gemalt hatte und die von den kanadischen Behörden zurückgegeben wurden.

Röbi hatte mehr Glück als sein Bruder und bekam eines der Zimmer im Obergeschoss des neueren Hauses, das er in ein Atelier verwandelte, weil es gutes Licht hatte. Alle Zimmer, die die Bauernfamilien nicht selbst brauchten, waren von Flüchtlingen bewohnt, manchmal ganze Familien in einem Raum. Mit der Zeit zogen alle weiter. Röbi lebte und arbeitete zunächst in dem alten Backhaus und konnte später ein Atelier von der Stadt Köln mieten.

Er wurde Maler, genau wie sein Vater. Er war ein hervorragender Porträtmaler aber ein hoffnungsloser Geschäftsmann. Kaum dass er das Honorar für einen Auftrag erhalten hatte, gab er das Geld verschwenderisch und großzügig aus, bis es aufgebraucht war. Dann hatte er wieder keinen Pfennig, musste darben bis zum nächsten Honorar oder bis seine Mutter ihm aus der Patsche half. Er war ein liebenswerter Mann mit viel Humor. Einer seiner prestigeträchtigsten Aufträge war ein Porträt Konrad Adenauers, nachdem dieser Kanzler geworden war. Röbi starb 1980.

Walter war ein begabter Sprachwissenschaftler. 1936 schrieb er sich in Bonn für jüdische Studien ein, was aber von der politischen Entwicklung überholt wurde. Er schloss nie ein Studium ab. Nach dem Krieg arbeitete er in verschiedenen Berufen, unterrichtete auch Latein und Französisch, sprach außerdem Arabisch und Griechisch. Er war zwei Mal verheiratet und hatte zwei Kinder. Walter starb 1999.

Mein Großvater starb im Dezember 1946 an einem Herzinfarkt, während er im Schwarzwald lebte. Er sah seine Familie nie wieder, nachdem er Köln endgültig verlassen hatte. Er wurde auf dem Friedhof von Hinterzarten beigesetzt. Obwohl er vorgehabt hatte, sich scheiden zu lassen, kam es dazu nicht mehr, so dass meine Großmutter eine anständige Pension erhielt und den Rest ihres Lebens gut versorgt war. Beim Wiederaufbau von Köln wurde eine Straße in Klettenberg nach meinem Großvater benannt.

Meine Großmutter hatte immer vor, nach Köln zurückzukehren, tat das aber nie. Meine Mutter konnte sie zum ersten Mal 1946 besuchen, als eine der ersten Zivilistinnen, die nach dem Krieg aus England nach Deutschland reisten. Von 1947 an verbrachten wir für viele Jahre jeweils die Sommerferien bei meiner Großmutter auf dem Bauernhof. Nachdem sie in das kleine Backhaus umgezogen war, wurde es modernisiert. Es bekam ein Klo mit Wasserspülung, ein Bad, und es hatte einen Garten. Es gab zwei Schlafzimmer, eine Küche mit Esstisch, ein Wohnzimmer und einen großen Keller.

Meine Großmutter hielt es nicht für richtig, Spinnen zu töten, also war das ganze Haus mit Spinnweben geschmückt. Davon abgesehen bestand sie darauf, einen eleganten Lebensstil zu pflegen. Sie behielt ihre Liebe zu starkem Kaffee, der immer in exquisitem Porzellan serviert wurde, das sie vor den Bomben in Köln gerettet hatte. Sie verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit mit Spaziergängen, mit Stricken, Lesen und Sticken, mit dem Einkochen von Obst und Marmelade. Hin und wieder fuhr sie nach Köln, um Röbi und ihre Schneiderin zu besuchen. Sie trug immer schöne Kleider und ging 60 Jahre lang zum selben Friseur, Herrn Kilian, der genau so alt war wie sie.

Meine Großmutter wanderte viele Kilometer durch die Landschaft und besuchte abgelegene Gehöfte. In vielen Häusern hängen noch heute Bilder von meinem Großvater oder Röbi, oder ihre wunderschönen Stickereien und Wandbehänge, die sie den Bauern, die in all den Jahren gut zu ihr gewesen waren, schenkte. Mit ihr umherzuwandern war eine fast königliche Erfahrung, weil sie auf ihrem Weg immer mit „Guten Morgen, Frau Professor” begrüßt wurde. Sie genoss den Status, den der Titel ihr verlieh.

Es muss allerdings gesagt werden, dass eine große gegenseitige Zuneigung existierte und dass viele der älteren Leute sie und ihren Mann schon vor dem Krieg gekannt hatten und die Eigenheiten meiner Großmutter gerne duldeten. Ich vermute, sie war sehr zufrieden damit, dass sie den Titel hatte, aber nicht den Mann, von dem er herrührte.

Meine Großmutter vergötterte Röbi, das dürfte aus dem Tagebuch klargeworden sein. Obwohl er viele Freundinnen hatte, schien es immer, als ob meine Großmutter in die Speichen griffe – er hat nie geheiratet. Ich besuchte meine Großmutter, als ich mit ihrem ersten Urenkelkind schwanger war, und trotzdem beauftragte sie mich, aus dem Fenster in einen Baum zu klettern und einige Pflaumen zu pflücken, weil sie Angst hatte, Röbi könnte hinabstürzen, wenn er es täte.

Meine Großmutter starb 1972 an einer Herzkrankheit.

Was die Menschen in Oberschönrath angeht, die Arbeiter, den Schmied, die Gaststätte, ist der Kontakt zwischen unseren Familien über fünf Generationen und 80 Jahre erhalten geblieben. Nicht nur, dass sie meiner Großmutter halfen, den Krieg zu überleben, als sie nichts mehr hatte, sie kümmerten sich auch um sie, als sie alt und gebrechlich war, und nach ihrem Tod bewahrten sie ihr Andenken und kümmerten sich um ihr Grab.

Menschen und Orte

Die häufig erwähnte Familie Reinemann waren Nachbarn und Freunde meiner Großmutter, und ihre Tochter Bully war die beste Freundin meiner Mutter. Sie traten beide glamourös auf und kleideten sich immer nach der aktuellsten Mode. Beide gehörten demselben Tennisclub und denselben sozialen Klubs an und zählten zur strahlenden jungen Kölner Gesellschaft. Im Sommer genossen sie es, Tennis zu spielen und in schnellen Autos herumgefahren zu werden, im Winter fuhren sie in die Alpen zum Skiurlaub.

Kurt Korsing war ein Freund der Familie, gehörte zu ihrem sozialen Kreis und war einst mit meiner Mutter verlobt gewesen. Er war Anwalt.

Biba war einer der besten Freunde von Röbi. Sie gingen zusammen zur Schule und verbrachten in Cafés und Bars viele Stunden damit, über das Leben und das Universum zu diskutieren. Gemeinsam war ihnen auch ihre Liebe zu Pferden. Sie ritten zusammen aus, wann immer es möglich war.

Liesel war ebenfalls eine Freundin meiner Mutter und zählte zu ihrem Gesellschaftskreis. Wie meine Mutter ging auch Liesel zur Kunstgewerbeschule, nachdem sie die Schule abgeschlossen hatte. Beide studierten Modedesign.

Die Familie Reinartz war mit meiner Großmutter verwandt. Die beiden Töchter Gerda und Sybilla waren im Alter meiner Mutter und Walters. Sie lebten ein ganz anderes Leben als das meiner Mutter. Sie waren sehr fromm; die Tochter blieb zu Hause und ging niemals aus.

Katy Harz war mit einem Juden verheiratet und verließ Deutschland, um nach England zu gehen, während er zurückblieb, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Währenddessen wurde er unglücklicherweiser festgenommen und in ein Konzentrationslager gebracht. Katy Harz fand Arbeit bei einer Familie in dem Dorf, in dem meine Eltern lebten. An ihrem freien Tag traf sie jede Woche meine Mutter, bis Katy als Deutsche interniert wurde. Es war purer Zufall, dass Beide aus Köln kamen. Sie hatten einander vorher nicht gekannt. Frau Nanzig war Katys Mutter.

In der Todesanzeige meiner Großmutter wurden in der Zeitung die Hinterbliebenen aufgelistet, samt Adresse, darunter auch meine Mutter. Katy Harz sah die Anzeige und nahm Kontakt zu meiner Mutter auf, so dass die beiden sich in Köln trafen. Katy war nach dem Krieg nach Köln zurückgekehrt, und, wie durch ein Wunder, auch ihr Mann, dessen Gesundheit durch das Konzentrationslager aber ruiniert war. Immerhin verlebten die beiden noch einige glückliche Jahre miteinander.

Kurt Korsing, die Familie Reinartz und Biba überlebten den Krieg. Meine Großmutter hat es Kurt nie vergeben, dass er sich – so sah sie das – zu wenig Mühe gegeben hatte, ihre Briefe an ihre Tochter weiterzuleiten. Deshalb weigerte sie sich, ihn zu treffen. Biba und Röbi nahmen ihre Freundschaft wieder auf, die bis zu Röbis Tod hielt. Die Reinartz-Kinder hielten den Kontakt aufrecht, obwohl meine Großmutter sie für viel zu prüde und zwanghaft ordentlich hielt – beides Eigenschaften, die sie nicht mochte.

Mit dem Ende des Krieges wurden die Zwangsarbeiter befreit, und manche von ihnen nahmen Rache auf einigen Höfen. Aber oft wurden die Bauern, die gut zu ihnen gewesen waren, von ihren bisherigen Zwangsarbeitern beschützt.

Einige der früheren Zwangsarbeiter wollten nicht in ihre kommunistischen Heimatländer zurückkehren und blieben entweder oder schafften es, nach Amerika auszuwandern. Auch in der Gaststätte zum Häuschen hatte jemand gearbeitet, der blieb und in eine Familie im Dorf einheiratete.

Bernhard Miske, der Junge, der auf der Flucht aus der Sowjetunion von seiner Mutter getrennt worden war, arbeitete nach dem Krieg noch für einige Jahre weiter auf dem Knipscherhof. Das Rote Kreuz fand später seine Mutter in der UdSSR, und nach ihrem Berufsleben durfte sie nach Deutschland übersiedeln. Bernhard war ein sehr gut aussehender junger Mann und Röbi malte ein wundervolles Porträt von ihm. Bernhard heiratete und hatte mit seiner Frau eine Tochter. Er starb 1977.

Herr Reinemann und Bully wurden dadurch vor der Gestapo gerettet, dass der Einmarsch der Alliierten Anfang 1945 unmittelbar bevorstand. Meine Mutter traf Bully, als sie 1946 nach Deutschland kam, aber Bully heiratete kurz danach und zog weg, so dass der Kontakt abbrach. Herr und Frau Reinemann, die die ganzen Kriegsjahre in Köln durchgehalten hatten, zogen aufs Land nach Odenthal. Es scheint, als wollten sie die schrecklichen Kriegerlebnisse hinter sich lassen, so dass sie auch die Kontakte aus der Kölner Zeit – und damit zu meiner Großmutter – abbrachen.

Das Bergische Land östlich von Köln, das im Tagebuch eine große Rolle spielt, war schon damals ein beliebtes Ausflugsziel für die Städter. Am Wochenende spazierten sie durch die Täler und Wälder und kehrten abends in Gaststätten ein. Sehr beliebt war das Restaurant „Zum Häuschen”.

Es war eher ein Bauernhof mit Ausschank. Direkt neben der Gaststube war der Stall für Kühe und Arbeitsochsen. Während mein Großvater in der Gaststube blieb, bis es Zeit war, nach Köln zurückzufahren, saß meine Großmutter bei den Bäuerinnen und strickte oder stickte. Das „Häuschen” existiert noch heute als Gasthof und Hotel im Dorf Oberschönrath, so genannt, weil es oberhalb der Burg Schönrath liegt, von der es früher beherrscht wurde, und von wo aus man über das Rheintal bis nach Köln sehen kann.

Schloss Ehreshoven liegt ebenfalls im Bergischen Land, im Aggertal. Es wurde im späten 17. Jahrhundert umgebaut und ist heute vor allem durch die Fernsehserie „Verbotene Liebe” bekannt.

Der Königsforst ist ein großes, flaches Waldgebiet zwischen Köln und dem Bergischen Land, das von der Innenstadt aus schon in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und ein beliebtes Ausflugsziel war.

Die Schildergasse, wo mein Großvater sein Atelier hatte, liegt im Herzen Kölns und ist heute Teil der Fußgängerzone in der Hauptshopping-Meile.

Heute ist Köln wieder eine reiche und schöne Stadt, die es erfolgreich geschafft hat, den umfangreichen Wiederaufbau der Altstadt mit einigen Beispielen atemberaubender moderner Architektur zu kombinieren. Mir ist klar, dass nicht jeder dieser Einschätzung zustimmen wird. Aber offensichtlich habe ich Köln nie mit kritischen Augen betrachtet. Für mich ist Köln gleichbedeutend mit meinen beiden exotischen Onkeln, einer mich verwöhnenden Großmutter und mit den Museen und Galerien. Vor allem aber wurde die Vergangenheit nicht vergessen. Die Kirche Alt St. Alban zum Beispiel wurde als Ruine erhalten, und in ihrem zerstörten Gemäuer beherbergt sie eine Kopie einer wundervollen Skulptur von Käthe Kollwitz, nämlich die trauernden Eltern. Ich spüre eine Verbundenheit mit Köln, und wenn ich dort bin, habe ich immer vor Augen, dass überall wohin ich gehe, die Familie meiner Mutter ebenfalls gewesen ist.