Einleitung von Clare Westmacott

Das Tagebuch
Meine Großmutter Klara Mehlich hat dieses Tagebuch von Dezember 1940 bis November 1944 geschrieben, während sie in Köln und der Umgebung lebte. Sie schrieb es für meine Mutter, die den Engländer Jack, meinen Vater, geheiratet hatte und in England wohnte. Die Aufzeichnungen beschreiben das Leben meiner Großmutter während der Kriegsjahre, und sie hoffte, dass, wenn es ihr nicht möglich sein sollte, meiner Mutter das Tagebuch persönlich zu geben, es auf anderem Weg eines Tages in deren Hände gelangen würde. Beide haben den Krieg überlebt, und irgendwann bekam ich das Tagebuch.
Meine Großmutter hatte einen bunten familiären Hintergrund. Sie wurde 1889 geboren, als Kind einer Bauerntochter, die – so die Familienüberlieferung – mit einem Kunstreiter durchgebrannt war, während der Zirkus in ihrer Stadt gastierte. Als Kind reiste meine Großmutter ausgiebig in Städte überall in Europa, darunter Sankt Petersburg und London. Ihre Familie war groß und sie verlor mehrere Brüder im Ersten Weltkrieg.
Als meine Großmutter heiratete, war sie viel jünger als ihr Mann. Er war Maler und Professor in Köln, und sie hatte ihm Modell gestanden. Er war 1874 in Köln geboren worden, als Sohn eines Bildhauers, der aus dem Saarland zugereist war, um bei der Fertigstellung des Kölner Doms mitzuwirken. Mein Großvater bekam seine ersten Unterrichtsstunden von seinem Vater, und von 1897 bis 1908 war er Schüler von Eduard von Gebhardt an der Düsseldorfer Kunstakademie sowie Meisterschüler von Johann Peter Theodor Janssen. Als Student reiste er nach Berlin, München, zur Weltausstellung nach Paris, nach Belgien, Holland und Italien, um sich weiterzubilden. Der einjährige Aufenthalt in Italien war durch ein Stipendium möglich, das er gewonnen hatte.
Er spezialisierte sich auf historische und religiöse Motive und Baudenkmäler, und seine Arbeiten wurden in vielen deutschen Städten, einschließlich Berlin, ausgestellt. Eines seiner frühen Wandgemälde, entstanden 1902, hatte den Titel „Prometheus bringt der Menschheit das himmlische Feuer, die Wahrheit der Kunst und das Licht der Erkenntnis” und schmückte die Decke des Kölner Opernhauses. Er war verantwortlich für große Wandbilder in vielen Kirchen und weltlichen Gebäuden, zum Beispiel ein Wandbild in der Schatzkammer der Nassauischen Landesbank in Wiesbaden, das er 1915 malte. Er genoss hohes Ansehen als Porträtmaler und gehörte einem Künstlerzirkel mit dem Namen „Der Stil” an.
Er wurde 1912 oder 1914 Lehrer und 1923 Professor an der Kölner Kunstgewerbeschule. 1936 ging er in Pension. Viele seiner Bilder wurden im Krieg zerstört, darunter das Deckengemälde in der Oper, aber einige Werke sind noch in Kölner Museen aufbewahrt, während einige religiöse Bilder in die USA verkauft wurden. Andere Werke gehören Privatleuten.
Meine Großeltern hatten drei Kinder, meine Mutter Liese Lotte (geboren 1912), Walter (geboren 1916) und Robert („Röbi”, geboren 1920). Sie waren wohlhabend, zählten zur Bohème und lebten in einem eleganten Haus in der Wiethasestraße in Köln-Braunsfeld. Sie bewegten sich in höheren Kreisen und gehörten vor dem Krieg zu den besten Klubs. Zu ihren Bekannten zählte auch Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, 1933 von den Nazis abgesetzt und später erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Die Kinder hatten eine Gouvernante, bis sie zur Schule gingen – meine Mutter in eine Klosterschule, Walter in eine Jesuitenschule und Röbi in eine städtische Schule.
Meine Mutter kam 1936 als Au-Pair nach England. Sie lernte meinen Vater kennen und heiratete ihn standesamtlich 1937 mit einer Sondererlaubnis, bevor sie nach Deutschland zurückkehren musste, kurz bevor ihr Visum ablief. Als verheiratete Frau war es leichter für sie, 1938 dauerhaft nach England zurückzukehren. Sie und mein Vater heirateten dann kirchlich, wobei meine Großmutter die Braut zum Altar führte. Meine Eltern besuchten 1938 die Familie in Köln. Mit der Heirat bekam meine Mutter die britische Staatsangehörigkeit und wurde nach Kriegsbeginn nicht interniert. Ich wurde 1940 geboren (im Tagebuch nennt meine Großmutter mich Klärchen), mein Bruder Nigel 1943.
Die politischen Ansichten meiner Großmutter während des Krieges werden deutlich, und dieses Tagebuch muss sie heimlich geführt haben. Nach ihrer Handschrift zu urteilen hat sie manchmal in großer Eile geschrieben. Tatsächlich wurde sie einmal von der Gestapo einbestellt wegen eines Briefs, den sie erhalten hatte, und sie hält im Tagebuch auch illegale Aktivitäten fest, die sie unternahm.
Die Aufzeichnungen sind sehr persönlich und spiegeln ihr Leben in dieser Zeit wider – als Hausfrau, die verzweifelt Lebensmittel für ihre Familie zu beschaffen versucht, als Bürgerin, die die Entbehrungen des Krieges erträgt ohne ihren Grundsätzen untreu zu werden, aber vor allem als Mutter, deren sehnlichster und über allem stehender Wunsch es war, ihre Kinder mögen gesund und wohlbehalten zurückkehren. All dies steht im Zeichen des Kriegshorrors.
Zunächst scheint es, als falle es ihr schwer, ihr Tagebuch ans Laufen zu bringen, aber schon bald wird deutlich, dass auch ihre scheinbaren Abschweifungen sowohl relevant als auch interessant sind.
Das Tagebuch legt Widersprüche in ihrer Beziehung sowohl mit ihren Kindern als auch mit ihrem Ehemann offen, die, zumindest was ihre Kinder betrifft, nur durch den Kriegsstress zu erklären sind. Ein Beispiel: Obwohl sie das Tagebuch für meine Mutter führte, lebte meine Großmutter nicht selten in der Vorstellung, dass ihre Tochter nicht einmal versuchte, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Ihre Beziehung zu ihrem Sohn Walter wechselt zwischen großer Nähe und Liebe bis zur Gleichgültigkeit. Nur Röbi entgeht jeglicher Kritik.
Was ihre Beziehung zu ihrem Mann angeht, war diese offensichtlich lange vor dem Krieg zerbrochen, aber die Liebe zu ihren Kindern und die Sorge um sie, die beide miteinander teilten, war der Faden, der von ihrer früheren Bindung übrig geblieben war.
Ihre Beziehung zu Gott war sehr persönlich und nicht ohne eine Prise Humor. Ihr Glaube wankte bei mancher Gelegenheit, aber im Großen und Ganzen war sie überzeugt, dass ihre Kinder zu ihr zurückkehren würden, wenn Gott es nur wollte.
Es gibt Unstimmigkeiten was die Fakten im Tagebuch angeht, aber man kann annehmen, dass sie aufschrieb, was sie für wahr hielt. Beispielsweise war ihr die Propaganda der Nazis offensichtlich verdächtig, und doch glaubte sie an einen Bericht, die Kathedrale von York sei von der Luftwaffe zerstört worden.
Von unserer Zeit aus betrachtet ist es faszinierend, ihre Berichte über die Ereignisse zu lesen, deren Einzelheiten wir heute kennen. Zum Beispiel ihre Schilderung dessen, was in der Nacht vom 30. Mai 1942 passierte, der erste 1000-Bomber-Angriff auf Köln und damit des Zweiten Weltkriegs.
Oder auch ihre Beobachtung im September 1941, dass die Juden begannen, den gelben Davidstern an ihrer Kleidung zu tragen. „Heute sehe ich auf der Straße die Juden mit ihren Abzeichen herumlaufen. Sionsstern, auf gelbem Grund steht ‚Jude‘, kleine Kinder, alles muß dieses Zeichen tragen. Ich weiß nicht, zu was das gut ist. Es macht auch in der anständig gesinnten Bevölkerung nur böses Blut und heute geht man mit einem Kopfschütteln an diesen kleinlichen Maßnahmen vorbei.“
Obwohl ich meine Großmutter gut zu kennen glaubte und sie von Herzen liebte, ist es mir als Kind nicht aufgefallen, dass sie niemals über den Krieg sprach (sie zeigte mir lieber die Schönheiten der Landschaft und nahm mich mit in Museen und Kunstgalerien). Ich bin zum ersten Mal 1948 nach Deutschland gefahren, im Alter von sieben Jahren, und ich werde den Anblick Kölns bei diesem ersten Besuch nie vergessen. Überall Zerstörung und kleine Blumengebinde auf den Trümmerhaufen als Zeichen des Gedenkens.
Meine Großmutter lag in Bensberg im Krankenhaus und wurde wegen ihrer Herzprobleme mit Blutegeln behandelt. Ich werde nie das Glas auf dem Fensterbrett über ihrem Bett vergessen, in dem sie lagen. Später dann saßen meine Mutter und meine Großmutter bei jeder Gelegenheit zusammen und redeten und redeten, Stunde um Stunde ohne Unterbrechung.
Jetzt habe ich mich zu guter Letzt durch ihr Tagebuch gearbeitet und bewundere ihren Stoizismus, ihre Integrität und ihren Mut während dieser grässlichen Phase der Geschichte und habe das Gefühl, dass ich sie viel besser kenne als vorher.
Goethe schrieb: „Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist.” Ich glaube, dass diese Aussage niemals mehr Wahrheit enthielt als mit Blick auf dieses Tagebuch.

Clare Westmacott berichtet in Videos, die sie für ein Online-Seminar des Kölnischen Stadtmuseums zum Weltfrauentag 2021 aufgenommen hat, über ihren ersten Besuch in Deutschland 1948