Ich brauchte mich meiner gar nicht schämen / I had no reason to feel ashamed of myself

Ein weiterer Brief von Röbi aus Kanada an seine Schwester Lotte in England / Another letter from Röbi in Canada to his sister Lotte in England:

Canada, den 11. September 1943

Mein liebes Lottchen!

Es ist spät, sehr spät, und ich denke an Dich und all das, was mit Dir zusammenhängt. Gerade dein letzter Brief gab mir sehr viel Gutes und Reines, welches man in all dem, was man erlebte und durchmachte, fast in Vergessenheit und Dunkel brachte. Aber mochte geschehen was wollte, ich brauchte mich meiner gar nicht schämen. Und dies ist wohl das Wertvollste, was ich besitze. Besonders jener Satz, in welchem du über Mutter sprachst, hat mich tief ergriffen. Du brauchst dir in dieser Beziehung gewiss keine Sorgen zu machen. – Während ich hier schreibe, ist bei dir das freudige Ereignis schon eingetreten. Alles gut gegangen? Wie geht es ihm bzw. ihr? Von Mutter erhielt ich bisher immer noch keine Nachricht. Grüß bitte alle und sei recht herzlich gegrüßt und geküsst von Deinem

Röbi

Anmerkung von Clare Westmacott: Klara und Röbi haben keinen direkten Kontakt. Lotte ist das einzige Familienmitglied, zu dem Röbi Verbindung aufnehmen kann. Seine Sätze sind auffallend vage, was daran liegen könnte, dass er damit rechnen musste, dass seine Briefe zensiert wurden.

Canada, September 11, 1943

My beloved Lottchen!

It is late, very late and I am thinking of you and your situation. Your last letter, especially, brought me a sense of goodness and purity which had almost been lost in oblivion and darkness. Yet, come what may, I had no reason to feel ashamed of myself. And that is what I value most of all. Particularly the sentence in which you wrote about Mother touched me deeply. There is certainly no need to worry in this respect. As I am writing this, at your end the happy event will have taken place. Has it all gone well? And how is he, or she? I have still not heard anything from Mother. Give my regards to everyone please and be heartily greeted and kissed by your

Röbi.

Note by Clare Westmacott: There is no direct contact between Klara and Röbi, so Lotte is the only family connection he has. Röbi’s sentences are notably unspecific which might be due to the censorship his letters are facing.

Das kann nur eine Bonzentrulla sein / She can only be a big-shot’s tart

Wald im Bergischen Land / Forest in the Bergische Land near Cologne (Photo by Clare Westmacott)

5. September 1943

Es ist schon wieder eine Weile her, seit ich mich mit dir unterhielt. Aber was soll ich auch immer schreiben. Ja was, dass die Butter 50 Mark kostet, dass der Kaffee 260 Mark kostet und Zucker für Geld nicht zu haben ist. Oder dass ich einen Wassereimer Kartoffel bei den Bauern schäle um Milch zu bekommen und die Bauernweiber durch Arbeiten mir wohlgesinnt mache, um von der Ernte Mehl zu bekommen. Ja, das alles ist wenig erquicklich, gehört aber zu meinem Leben.

Heute ist Sonntag, ich war zu Hause heute morgen in Köln, um nachzusehen, ob noch alles da ist, es wird toll gestohlen, die unglaublichsten Dinge geschehen. Also, ich fahre von Deutz nach Braunsfeld. Ich sehe Leute, die ihren wohlverdienten Ruhetag dazu verwenden müssen, Schutt abzufahren, um die Straßen passierbar zu machen. Sie werden dazu gezwungen. Dann gehe ich heim.

Es ist alles so öde, ich bin froh, wenn ich wieder fort bin, alles erinnert mich an euch, und ich kann nicht allein bleiben und fahre wieder zu meinem „Retreat“ in mein stilles Schloss, es liegt in der Sonne in seiner einfachen Schönheit, in seiner wohltuenden Stille, ich komme in mein Zimmer, da kommt der alte Baron G. und bittet mich um einen Spaziergang, er ist auch heute allein, seine Tochter ist eingeladen.

Ich gehe gerne mit. Wir gehen in den Wald, er ist herrlich in seiner Einsamkeit. Trotz der Sonne spüre ich schon den Herbst. Es ist alles traumhaft still. Wir gehen auf die Höfe und übersehen das Tal. Beide denken wir, wie schön ist Gottes Erde, und welche Freude, wenn es nur keine Menschen gäbe.

Ja, was ist das, ja, es ist die Sirene, es ist Fliegeralarm und somit sind wir wieder in der Wirklichkeit. Jede Nacht Alarm und wenn auch Köln gänzlich zerstört ist und ebenso das ganze westliche Gebiet, so ist doch noch eine Menge zu zerstören und sie werden es auch zerstören, ja, und nun sind wir glücklich im 5. Kriegsjahr. Italien ist Kriegsschauplatz, die Invasion hat begonnen, jeden Tag andere Neuigkeiten. Berlin hat jetzt das mitzumachen, was wir ertragen mussten.

Das arme Volk muss weiter dulden, muss dafür büßen, was eine Hand voll Verbrecher verschuldet hat, muss sehen wie seine Jugend verblutet, wie seine Familien gemordet werden, jede Nacht durch Luftangriffe, sein Besitz, die Früchte seiner Arbeit, ein ganzer Lebensertrag in 20 Minuten dahin, und selbst dann hat ein Mensch mittellos nur das, was er auf dem Leib hat, auf die Gnade seiner Mitmenschen angewiesen, die leider, Gott sei es geklagt, meist verständnislos seinem Elend gegenüber stehen und ihn wie einen Bettler behandeln.

Ja, und noch geht es trotz alledem weiter, eben weil die Schweinhunde da oben noch immer nicht einsehen, dass sie erledigt sind, und lieber das ganze Volk verbluten lassen, als den Mut zur Wahrheit zu haben. Und da siehst du, trotzdem man sich tot sehnt, ist noch keine Hoffnung da auf ein Wiedersehen.

Ja, und doch etwas erfreuliches, ein Brief und 2 Karten, eine davon für Walter von Röbi, er ist in Kanada eingetroffen, er ist weit vom Schuss und das ist ein Trost, wenn er sich auch immer weiter von mir entfernt, ich weiß ihn wenigstens fort aus dem Hexenkessel. Er wie wir müssen in den sauren Apfel beißen uns lange Zeit nicht zu sehen.

Jetzt ist Walter in Gefahr und sein letzter Brief zeigte mir ganz, wie recht er hat, wenn er sagt, dass uns die Franzosen heiß und tief hassen und jedem Deutschen mit Freuden den Hals abschneiden. Ach, wenn er nur rechtzeitig abhauen kann.

Er ist nicht gesund, dass jahrelange unzureichende Essen rächt sich, er ist nicht so stark, er kann nicht so gut widerstehen. Der Arzt stellt Unterernährung fest. Vitaminmangel, er hat Löcher in den Füßen und Beinen, ich sehe zu und kann nicht helfen. Schicke ich was, wird es gestohlen. Ja, wenn er doch sein Geld nähme und alles fräße, was er dafür kriegen kann. Aber da kauft er Bücher und anderen Unsinn und frisst schlechtes Brot und hungert. Ja, wenn ich ihn hier hätte, wäre es ja doch besser für ihn.

Ja, und nun Menschen unserer Zeit. Ich sitze in der Straßenbahn, da steigt eine elegante Dame ein in deinem Alter ein. Aber kenne ich die Frau nicht, habe ich sie nicht schon mal gesehen, ja, da sieht sie mich an und stutzt, aber sie schaut fort. Gott, ist die Frau elegant, aber auch überfressen. Irgend so ein Schieberweib. Ich muss immer wieder hinsehen, hat die Schmuck an und die hauchdünnen Strümpfe.

Ja, das kann ja nur eine Bonzentrulla sein, denn auch Damen haben heute solchen Luxus nicht mehr. Heute laufen auch Damen ohne Strümpfe, eben weil sie keine haben. Aber das Frauenzimmer kenne ich, aber woher, da sagt sie es selbst: Frau Professor, kennen Sie mich nicht? Nein oder ja. Aber woher? Na, sie klärt mich auf. Es ist Alice F. Ja, und da steht sie in ihrer ganzen Frechheit wieder vor mir, wie ich mit ihr abrechnete. Ich hatte sie dann ja, wie du weißt, nicht mehr beachtet. Wir sprachen etwas zusammen, dann musste ich aussteigen.

Es war wohl mehr die Neugierde, etwas über sie zu erfahren. Ich erzählte es Reinemanns und Herr Reinemann klärte mich auf. Also, ihr Gatte ist Kriegsgewinnler allerersten Formats. Häutehändler. Nach der Entjudung blühte sein Weizen und im Krieg noch mehr. Sie verdienen Geld scheffelweise. Madame wohnt in ihrem Landhaus, ihr Stadthaus steht leer. Sie sagt, ihr Mann sei im Feld. Ja, so sieht für die der Krieg aus und dieses Pack wünscht, dass es immer so bleibe.

Er gründete den F.-Konzern Eines seiner Mitglieder ist ein SS Schwein, ein Rechtsanwalt, der in normalen Zeiten keinen Prozess verdient hätte, dessen Frau weiß heute nicht, wo sie einen Schreiner bekommt, der ihr einen Schuhschrank macht, damit sie ihre 50 paar Schuhe sachgemäß unterbringt. Ja, und dann wissen unsere fliegergeschädigten Volksgenossen nicht, wo sie ein Obdach bekommen.

Eine andere Bekannte. Herr und Frau Dr. Z. wünschen auch, dass es immer so bliebe, denn sie leben herrlich und in Freuden in Rumänien, können sich auch alles gestatten. Er ist Direktor eines kriegswichtigen Werks. Na, hoffentlich wird es ihnen bald zu heiß, er ist ein großer Heilschreier. Aber ich bin sicher, Frau F. entdeckt, wenn es schief geht, rasch ihr belgisches Herz, und dass ihre Schwester mit einem Engländer verheiratet ist, dann geht es auf der anderen Seite weiter. Diese Bande!

Bully war auch in Urlaub und geht mit großer Angst wieder fort. Wer weiß, was die nächste Zeit bringt. Ja, und es wird weiter gekämpft, aber auch weiter geschoben.

Der nächste Eintrag folgt am 25. September. Alle bisherigen Einträge auf der Seite “Das Tagebuch”.

5 September 1943

It has been a long time since I have been in touch. But what should I write? That butter costs 50 marks a pound, coffee 260 and sugar cannot be bought at any price. Or that I have got a bucket up at the farmers full of potatoes which I peel for them in exchange for some milk. I try to make the women at the farm like me by working, so I will get some flour at harvest time. This is all not very important but it is part of my life.

Today is Sunday and this morning I went to Cologne, to go home to see if everything is all right. There is a lot of theft. Unbelievable things have happened in Cologne. Well anyway I went from Deutz to Braunsfeld. I see people working, on the so-called day of rest. They were working to make the roads passable again. They were forced to. Then I went home.

It is all so terrible, I am glad when I leave. Everything reminds me of you, it upsets me there, I could not stay there alone and so I am relieved when I reach my retreat in the silent castle. It was bathed in sunlight in its beautiful surrounding and its peacefulness is a balm for the spirit. The Baron G. came along and asked me to go for a walk. He was alone as well, his daughter had been invited out.

I agree gladly. We go into the woods and the solitude there is wonderful. In spite of the sun I can feel the impending autumn. It is all dreamily quiet. We walk on through the farm land and thank God for the beauty of His countryside and think how wonderful it would be without people.

And then suddenly the sound of the air raid warning brings us back to reality. Every night there are alarms and even though Cologne and the whole western region has been almost completely destroyed there is still plenty left to destroy . We have reached the fifth year of war. Italy is the main theatre of war now. The invasion has begun, every day there is more news.

Berlin is now getting what we have had to endure. The poor people will continue to suffer and will have to pay for the crimes of a handful of criminals; will have to see their youth bleed and die, their families murdered every night from air raids, and the fruits of their life’s work destroyed in a twenty minute air attack. They are left with what they wear on their bodies, depend on the mercy of their fellow human beings who, it is sad to say, don’t understand the misery and treat them like beggars.

And in spite of everything  the war goes on because those swine still cannot see that they are finished, and would rather let the whole population bleed and die than admit the truth. And in spite of nearly dying from longing there still is no hope that we will see each other.

And now for some good news. A letter and two cards have come through from Röbi, one of them for Walter. He is safely in Canada and far away from the war and that is a comfort, for although he is far away from me, at least he is not in this hell.

We must bite the sour apple and accept that we will not see each other for a long time. Now Walter is in danger and in his last letter it was clear how very unhappy he is. He says they have no food and every German in France is hated so much he is in danger of having his throat cut. If only he could get out.

He is not strong, all those years of bad food have damaged him. He cannot withstand the hardship. The doctors have established he is suffering from undernourishment, vitamin deficiency. He has holes in his legs and feet. I can do nothing to help him. If I send anything it gets stolen. If he would only spend his money on some food and eat whatever he can get, but instead it goes on books or other nonsense and he eats bad bread. If only I had him at home it would be better for him.

And now about people of our time. I am sitting in the tram and a very elegant woman gets on, about your age. Although I did not know her I thought I had seen her before. Well she looks at me and sits opposite me. God, the woman is elegant. Well elegant, but over fed. She must be a black marketeer’s wife. I had to keep on looking at her; she had so much jewellery and the finest stockings.

She can only be a big-shot’s tart. Even ladies don’t have any stockings at all today, let alone ones of this quality. Somehow I know the cow, but who can she be? She tells me herself, “Frau Professor. Don’t you know me?” Do I, don’t I? But where from! Well she made it clear for me. It was Alice F., and she stood there in front of me, full of arrogance, like when I turned my back on her and didn’t take any more notice of her. We spoke a few words and then I had to get off anyway.

It was really curiosity about her that made me mention it to the Reinemanns. Herr Reinemann told me all about her. Her husband is a war profiteer of first rank. He is a leather goods trader. After the removal of the Jews his ship really came in and the war has brought more and more. They earn pots of money. Madame lives in the house in the country. Their town house is empty. She says her husband is in the field. So the war suits this kind of rubbish and they will be hoping it could go on for ever.

He founded the F.-company. One of the members, an SS swine, is a lawyer who in normal times would never have got a case. His wife finds it hard to get a joiner to build a new cupboard for her fifty pairs of shoes. Whilst our poor people have nothing!

Other acquaintances Mr and Mrs Z. They are also people who will hope for the war to go on and on. For they are living in peace and comfort in Rumania and want for nothing. He is the director of a company vital for the war effort. Still, hopefully it will soon be getting very uncomfortable there in Rumania for them. He is a great Heil Hitler fan. Anyway Frau F. has got it all worked out. If it all goes wrong she will refer to her Belgian origin and has a sister who is married to an English man so she will just change sides and carry on as before. These people…

Bully has been home on holiday and went back in great fear. Who knows what is going to happen. One thing is sure, the fighting will continue, and so will the corruption.

Next entry on September 25. For all entries up to the current date see “The Diary”.

Clare’s Memories – Clares Erinnerungen

Clare Westmacott hat ihre Großmutter auf dem Hof im Bergischen Land zum ersten Mal 1948 besucht – und danach immer wieder. Sie hat ihre Erinnerungen daran aufgeschrieben, an die Menschen und die Pferde, an Sprünge ins Heu und in dampfenden Kuhmist, an die Tränen, wenn sie und ihr Bruder Nigel nach den Ferien Abschied nehmen mussten. All das ist auf der Seite Clare’s Memories zu lesen.

Clare Westmacott visited her grandmother on the farm outside Cologne for the first time in 1948 – and many times in the years to come. She has written down her memories of people and horses, of jumps into hay and steaming cow dung, and of tears when she and her brother had to go home after the holidays. You can read it all on the page Clare’s Memories.